Experteninterview: "Ich hab's doch nicht am Kopp, ich hab's am Rücken - Behandlung chronischer Rückenschmerzen in der Schmerzklinik
Rückenschmerzen beeinträchtigen das Leben von Millionen Menschen – oft über Jahre hinweg. Wenn akute Beschwerden chronisch werden, reichen klassische Therapien nicht mehr aus. In der Schmerzklinik am Cellitinnen-Krankenhaus St. Franziskus in Köln-Ehrenfeld setzt Oberärztin Dr. Katrin Empt deshalb auf ein multimodales Behandlungskonzept. Seit 2013 leitet die Fachärztin für Anästhesiologie, Spezielle Schmerztherapie und Ernährungsmedizin dort ein interdisziplinäres Team, das sich u. a. auf die Behandlung chronischer Rückenschmerzen spezialisiert hat. Über die Therapiemöglichkeiten bei chronischen Rückenschmerzen gibt sie Einblicke in diesem Experteninterview. Die Fragen stellte Iris Gehrke.

Behandlungsmöglichkeiten chronischer Rückenschmerzung
I. Einstieg: Schmerz als medizinische Herausforderung
Frau Dr. Empt, aber wann spricht man eigentlich von chronischen Rückenschmerzen?
Von chronischen Rückenschmerzen – überhaupt von chronischen Schmerzen – spricht man, wenn die Beschwerden länger als drei bis sechs Monate anhalten oder wiederholt auftreten.
Was macht chronische Rückenschmerzen so komplex – medizinisch, aber auch im Umgang mit den Betroffenen?
Chronische Rückenschmerzen sind so komplex, weil sie häufig nicht eine Ursache haben. Wir sprechen von multifaktoriellen Ursachen. Es ist unser Ziel, zu verstehen wodurch die Schmerzen entstanden sind. Dabei spielen körperliche Ursachen wie Verschleiß, Operations- und Verletzungsfolgen oder muskuläre Defizite ebenso eine Rolle wie nicht körperliche Ursachen wie zum Beispiel psychische Erkrankungen, Überlastung und Arbeitsplatzunzufriedenheit. Viele Patienten wünschen sich jedoch eine klare Diagnose mit eindeutiger Ursache.
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit in einer spezialisierten Schmerzklinik von der in einer orthopädischen oder hausärztlichen Praxis?
In der Schmerzklinik betrachten wir den Patienten in einem umfänglicheren Kontext als in einer orthopädischen oder hausärztlichen Praxis. Wir untersuchen nicht nur das Problemgebiet – also z. B. den Rücken – sondern den ganzen Menschen. Wir nehmen uns die Zeit für eine ausführliche Anamnese. Dabei spielen Vorerkrankungen, Operationen, Traumata, Lebensweise, Stress im Alltag am Arbeitsplatz und innerfamiliäre Belastungen in der Schmerzentstehung eine wichtige Rolle. Der Zusammenhang zwischen Schmerzen und individuellen Lebenssituationen ist sehr unterschiedlich.
II. Multimodale Schmerztherapie – Konzept und Umsetzung
Welche Ansätze verfolgen Sie in der Schmerzklinik, wenn Patientinnen und Patienten mit langjährigen Rückenschmerzen zu Ihnen kommen?
Das Ziel in unserer multimodalen stationären Schmerztherapie ist die sogenannte Functional Restoration – also die funktionale Wiederherstellung bei chronischen Rückenschmerzen. Dabei geht es vor allem um die Verbesserung der Mobilität, Ausdauer, Beweglichkeit, Alltagsfähigkeit und den Erhalt der Arbeitsfähigkeit. Zusammengefasst streben wir eine nachhaltige Funktionsverbesserung und auch Schmerzlinderung an.
Das Ziel ist nicht die vollständige Schmerzfreiheit. Gerade bei degenerativen Erkrankungen, wie etwa Schäden an der Wirbelsäule, ist dieses Ziel auch oft unrealistisch.
Was bedeutet „multimodale Schmerztherapie“ konkret – wie sieht ein typischer Behandlungsplan bei Ihnen aus?
Ein typischer Therapieplan umfasst verschiedene Bausteine: Zunächst erfolgt eine gründliche Untersuchung, auf deren Basis wir individuelle, aktivierende und stabilisierende Physiotherapie anbieten, inklusive Anleitung zu eigenen Übungen. Zudem führen wir Entspannungstechniken ein, um Stress zu regulieren und die Selbstwahrnehmung zu verbessern. Psychologische Gespräche, sowohl im Einzel- als auch in Gruppensettings, helfen dabei, die Faktoren zu erkennen, die die Entstehung und Verschlechterung der Schmerzen negativ beeinflussen. Dabei spielen die Biografie, soziale Faktoren als auch der Charakter eine Rolle. Wir prüfen auch die medikamentöse Behandlung und schauen, ob Anpassungen notwendig sind – häufig können Schmerzmedikamente sogar reduziert werden.
Haben Sie Therapiebausteine, die sich in der Schmerzklinik als besonders wirksam erwiesen haben?
Ein wichtiger Baustein ist bei uns das Biofeedback-Verfahren, bei dem körpereigene Impulse sichtbar gemacht werden. Damit können die Patienten sehen, wie ihre Muskulatur arbeitet und auch auf Stress reagiert. Wir analysieren muskuläre Dysbalancen, die Körperhaltung, den Gang und die Statik, mit Hilfe dessen die Patienten ihre Körperwahrnehmung verbessern können. All unsere Therapien zielen darauf ab, die Selbstwirksamkeit der Patienten zu stärken und chronische Schmerzen besser zu akzeptieren. Sie sollen lernen, sich selbst besser zu helfen, so dass ihre Schmerzen weniger im Alltag dominieren. Das Ziel ist, dass die Patienten die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen und nicht mehr die Schmerzen das Leben bestimmen.
Welche Fachdisziplinen arbeiten in Ihrem Team zusammen – und warum ist diese Interdisziplinarität so wichtig für den Therapieerfolg?
Für unser multimodales Konzept ist die Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen unerlässlich. Unser Team besteht aus Ärztinnen, Physiotherapeutinnen, Psychotherapeutinnen und Entspannungstherapeutinnen sowie speziell ausgebildeten Pflegekräften, den sogenannten Pain Nurses. Jedes Teammitglied bringt seine Expertise ein und arbeitet eng mit den Patienten zusammen. Nur durch diese interdisziplinäre Zusammenarbeit können wir eine Behandlung gewährleisten, die auf die vielfältigen Ursachen und Einflussfaktoren chronischer Schmerzen eingeht. Das ist entscheidend für den Erfolg der Therapie.
III. Das bio-psycho-soziale Modell – Erklärung und Bedeutung
Das bio-psycho-soziale Modell ist die Grundlage Ihrer Therapie. Was genau versteht man darunter, und warum ist es für chronische Schmerzen so bedeutsam?
Das bio-psycho-soziale Modell beschreibt, dass die Ursachen chronischer Schmerzen vielschichtig sind. Es zeigt, dass verschiedene Faktoren zusammenwirken. Biologisch betrachtet spielen Alter, Fitnesszustand, frühere Verletzungen, Traumata, Operationen sowie Grunderkrankungen wie Rheuma oder Arthrose eine Rolle.
Der Begriff „Psycho“ umfasst die Einflüsse durch die Persönlichkeit des Patienten und sein Verhalten. Diese können biografisch erlernt sein oder sich aus den psychischen Auswirkungen langanhaltender Schmerzen ergeben. Hier stellen sich aus Sicht der Patienten viele Fragen: Bin ich jemand, der sich schnell überfordert? Habe ich mir zu viel vorgenommen? Bin ich eher ängstlich? Wie gehe ich mit Belastungen um: ziehe ich mich zurück, bagatellisiere ich, mache ich zu viel oder zu wenig? Auch die eigene Erziehung und die bisherigen Lebenserfahrungen beeinflussen, wie jemand mit Schmerzen umgeht.
Der soziale Aspekt schließlich beschreibt, wie der Patient in sein Umfeld eingebunden ist. Lebt er allein oder in einer Partnerschaft? Wie ist die Beziehung? Gibt es Kinder oder Angehörige, die gepflegt werden müssen? Hierbei schauen wir auch auf biografische Belastungen wie Trennungen, Todesfälle oder Erkrankungen im Umfeld. Finanzielle Sorgen, Unsicherheiten oder Unzufriedenheit im Beruf können ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf chronischer Schmerzen haben.
Inwiefern spielen psychische Belastungen oder soziale Faktoren wie Stress oder Isolation eine Rolle bei der Entstehung oder Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen?
Wie bereits beschrieben, sind psychische und soziale Faktoren eng mit den biologischen Ursachen verbunden. Stress, Ängste, soziale Isolation oder belastende Lebensumstände können Schmerzen verstärken oder sogar aufrechterhalten.
Manche Patienten reagieren anfangs skeptisch, wenn psychologische Aspekte zur Sprache kommen – etwa mit Aussagen wie: „Ich hab’s doch nicht am Kopf, ich hab’s am Rücken.“ Wie gehen Sie damit um?
Zunächst lassen wir diese Bedenken zu. Wir zwingen niemanden, sich psychotherapeutisch einzulassen. Es ist wichtig zu wissen, dass es bei fast allen Menschen einen psychischen Anteil gibt, der an der Entstehung und Aufrechterhaltung ihrer Schmerzen mitwirkt. Gerade für Patienten, die wenig Erfahrung mit Psychotherapie haben, ist dieser Bereich oft negativ behaftet. Wir informieren vorab, über die psychotherapeutischen Inhalte in Form von Gruppensitzungen und Einzelgesprächen. Die Teilnahme ist verpflichtend, aber niemand wird gezwungen, Dinge zu erzählen, die er nicht möchte. Häufig zeigen sich Vorbehalte, die sich jedoch meist entkräften lassen. In den Gruppensitzungen sprechen wir sehr niederschwellig über Zusammenhänge zwischen Schmerz und Stimmung. Fragen wie: „Wie kann ich mit Stress umgehen?“ oder „Wie sorge ich gut für mich?“ stehen im Mittelpunkt.
In der psychotherapeutischen Mitbehandlung geht es vor allem darum, den Einfluss psychischer Faktoren auf das Krankheitsgeschehen zu erkennen und positiv zu beeinflussen. „Niederschwellig“ bedeutet auch, dass wir an Alltagswissen anknüpfen. Es gibt im Volksmund viele Redewendungen, die Zusammenhänge zwischen Schmerzen und Lebenssituationen beschreiben, zum Beispiel: „Das sitzt mir im Nacken“, „Das liegt mir im Magen“, „Das hängt mir im Kreuz“, „Ich muss die Zähne zusammenbeißen“ – diese Redensarten beschreiben psychisch belastende Zustände über ein körperliches Symptom. Dadurch nehmen wir den Patienten Ängste und vermindern Vorbehalte, und es wird deutlich, dass es bei der Behandlung nicht darum geht, jemanden in eine „Psychoecke“ zu stellen. Ziel ist vielmehr, die Zusammenhänge verständlich zu machen und den Patienten zu helfen, ihre Schmerzen besser zu verstehen und aktiv zu bewältigen.
IV. Therapieerfolge, Herausforderungen und Patientenperspektive
Was erleben Sie bei Patientinnen und Patienten, die lange nur symptomatisch behandelt wurden – etwa mit Schmerzmitteln, Injektionen oder Operationen?
Wir beobachten häufig, dass Patienten über Jahre hinweg behandelt wurden, dabei aber kaum aktiv in den Behandlungsprozess eingebunden waren. Der Fokus lag oft auf passiven Maßnahmen wie Spritzen, Akupunktur, Massagen oder Operationen. Das führt dazu, dass Patienten teilweise entmündigt werden und kaum Gelegenheit bekommen, selbst Verantwortung zu übernehmen oder die Ursachen ihrer Beschwerden zu reflektieren. Die Diagnostik bei Rückenschmerzen basiert häufig nur auf körperlichen Beschreibungen, was durch Zeitmangel und Ressourcenknappheit in den Praxen bedingt ist. Aufklärung über die Therapieziele ist dabei essenziell. Viele Patienten haben unrealistische Erwartungen, etwa „Ich möchte schmerzfrei werden“. Nach jahrzehntelangem Frust ist das verständlich, aber diese Erwartung ist meist unrealistisch. Sie erleben sich dadurch oft als abhängig vom Behandler und fühlen sich hilflos. Zudem gibt es Patienten, die wenig Eigenmotivation zeigen, sich von Kur zu Kur oder Krankschreibung zu Krankschreibung hangeln und oft ein Rentenbegehren haben.
Welche Patientinnen und Patienten profitieren von der multimodalen Schmerztherapie und wie wählen Sie aus?
Vor der Aufnahme in die Schmerzklinik prüfen wir anhand einer Checkliste, ob die Patientin oder der Patient geeignet ist. Ausschlusskriterien sind unzureichende Deutschkenntnisse, fehlende körperliche Belastbarkeit durch schwere Vorerkrankungen, Pflegebedürftigkeit, akute psychische Krisen, Suchterkrankungen, laufende Rentenverfahren oder Klageverfahren.
Voraussetzung für eine multimodale Schmerztherapie ist eine erkennbare Eigenmotivation für Veränderungen und Mitgestaltung der eigenen Behandlung. Wir besprechen mit den Patientinnen und Patienten ihre individuelle Zielsetzung. Diese soll realistisch gewählt sein mit kurz- und längerfristigen Etappen und beinhaltet nicht die Schmerzfreiheit, sondern Functional Restoration.
Wie motivieren Sie Menschen, sich auf einen ganzheitlichen Ansatz einzulassen – auch wenn sie jahrelang andere Erfahrungen gemacht haben?
Unsere Erfahrung zeigt: Veränderungen brauchen Zeit. Die durchschnittliche Therapiedauer liegt bei etwa 18 bis 19 Tagen. Während dieser Zeit durchlaufen die Patienten verschiedene Phasen. Zu Beginn fühlen sie sich oft erleichtert, weil sie gesehen werden und in ein individuelles Programm eingebunden sind. Nach der ersten Woche kann Frustration aufkommen, weil die Fortschritte nicht sofort sichtbar sind und Defizite sowie Erschöpfung spürbar werden. Themen, die vorher keine Rolle spielten, treten zutage. Die Patienten kommen aus ihrem gewohnten System heraus, finden Ruhe, werden aber auch gefordert. Der entscheidende Wendepunkt ist meist Mitte der zweiten Woche: Dann merken sie, dass es langsam besser wird, sie gewinnen Selbstwirksamkeit und können Schwankungen besser aushalten. Durch die multimodale Schmerztherapie helfen wir den chronisch Erkrankten, ihr Potenzial (wieder-)zu entdecken und zu nutzen.
Welcher Satz begegnet Ihnen in der Praxis am häufigsten?
Viele Menschen mit chronischen Rückenschmerzen kommen zu uns mit der Aussage „Sie sind meine letzte Hoffnung, weil der Orthopäde sagt, er kann nichts mehr für mich tun.“ Wir motivieren und ermutigen dann mit der Antwort: „Aber Sie können selbst etwas für sich tun!“
Frau Dr. Empt, vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Iris Gehrke, Unternehmenskommunikation Cellitinnen-Krankenhaus St. Franziskus