Warum Bewegung gegen Schmerzen hilft: Interview mit Prof. Dr. Ingo Froböse
"Superpower gegen Schmerzen" - Warum Bewegung den Körper gesund hält und sogar gegen Schmerzen hilft
Interview mit Prof. Dr. Ingo Froböse, Leiter des Instituts für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Die Fragen stellte Iris Gehrke am 10. August 2022 beim interdisziplinären Schmerzsymposium im St. Franziskus-Hospital.
Herr Prof. Froböse, warum ist Bewegung für die Gesundheit so wichtig?
Bewegung ist das Salz in der Suppe für unseren Körper. Nur was wir aktiv nutzen, entwickelt sich. Und was nicht genutzt wird, das verkümmert. Unsere Großeltern wussten das bereits: Wer rastet, der rostet. Damit gemeint ist, dass viele Prozesse im Körper über Bewegung stimuliert und reguliert werden: Wachstumsprozesse, Anpassungsprozesse und Lernprozesse. Heutzutage haben wir ja leider vor allem geistigen Stress. Wir brauchen aber unbedingt auch den körperlichen Stress in Form von Bewegung.
Was passiert denn genau im Körper, wenn wir uns bewegen?Sind diese Prozesse eigentlich schon verstanden?
Einer meiner Lehrer an der Universität zu Köln hat immer gesagt: „Froböse, schau dir mal die Weltkarte an und das, was wir wissen, ist in etwa so groß wie Köln.“ Was dieser Vergleich meint: Wir haben erst in Ansätzen verstanden, was in unserem Organismus geschieht. Was wir aber mit Bestimmtheit sagen können: Nicht nur die Muskeln müssen trainiert werden; auch Kochen, Gelenke, Sehen, Bänder, Herz-Kreislauf- und Stoffwechselsystem brauchen die Bewegung, um gesund, kräftig und funktionstüchtig zu bleiben.
Was tut Bewegung genau für den Bewegungsapparat?
Den Begriff „Bewegungsapparat“ finde ich eigentlich zu starr, weil man da eine Maschine denkt. Man sollte besser von einem „Bewegungssystem“ sprechen, und für dieses System gilt: Bewegung trainiert Muskeln, fördert die Koordination und verbessert den Stoffwechsel der Muskulatur. Bewegung ist gleichzeitig wichtig, damit unsere Knochen und Knorpel ernährt werden. Gerade in der Vorbeugung von Arthrose hilft Sport ungemein! Der Knorpel hängt quasi am Tropf der Bewegung: Weil der Knorpel nicht durchblutet ist, kommen die Nährstoffe über die Flüssigkeiten im Knorpel an. Das geschieht bei jeder Bewegung, wenn der Knorpel gewalkt und gedrückt wird. Ähnliches gilt für die Bänder und Sehnen. Das gesamte Bindegewebe erfährt durch Bewegung eine größere Festigkeit und Elastizität.
Welche Effekte hat Bewegung auf das Herz-Kreislauf-System?
Für das Herz-Kreislauf-System setzt Bewegung tolle Reize. Durch körperliche Anstrengung wird die Herzarbeit ökonomisiert. Das Lungenvolumen wird größer. Die Gefäße bleiben elastisch. Das Blut bleibt auf einem viel besseren Versorgungsniveau, weil sich die Anzahl der roten Blutkörperchen erhöht und damit der Sauerstofftransport deutlich besser wird. Wir haben einen positiven Einfluss auf das Immunsystem, das von der ersten Sekunde der körperlichen Aktivität an stimuliert wird. Wir sind also viel widerstandsfähiger, weil unsere Abwehrzellen zielgerichteter gegen Krankheitserreger vorgehen können.
Und wie sieht es mit den geistigen und kognitiven Effekten aus?
Wenn wir uns bewegen, tun wir immer auch etwas für unsere geistige Gesundheit. So finden zum Beispiel Lernprozesse viel besser statt. Vokabeln lernt man immer besser in Bewegung als beim Sitzen. Wir wissen auch, dass wir bestimmte präventive Effekte erzielen in Bezug auf bestimmte Hirnerkrankungen, insbesondere in der Vorbeugung von Demenz und Alzheimer. Sport und Bewegung helfen auch bei depressiven Verstimmungen. Körperliche Aktivität macht gute Laune, wir können unsere Emotionen ausleben. Das fördert die Resilienz. Bewegung wirkt auf Körper, Geist und Psyche – wir fassen das zusammen als biopsychosoziales Konzept.
Gibt es neue Forschungsergebnisse zum Thema aus den letzten Jahren?
Die gibt es! Was wir erst seit zehn/fünfzehn Jahren wissen ist, dass der arbeitende Muskel enzymähnliche Botenstoffe ausschüttet, so genannte Myokine. Diese körpereigenen Botenstoffe sind zuallererst von einem Forscherteam in Kopenhagen im Jahr 2007 beschrieben worden, und es wird seitdem intensiv daran geforscht. Bekannt ist inzwischen, dass Myokine die Organe stimulieren, Lern- und Wachstumsprozesse anregen. Aber eben nur, wenn die Muskulatur intensiv arbeitet! Es gibt mehrere Hundert dieser Botenstoffe dieser Art, vielleicht sogar noch mehr.
Wieviel Bewegung muss ich denn machen, damit ich gesund bleibe?
Nun – ich werde meist danach gefragt, „wie wenig“ ich denn machen muss! Wir haben ja alle so fürchterlich wenig Zeit und wollen uns effizient bewegen. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass unsere körperliche Aktivität aus zwei Komponenten bestehen muss: aus Herz-Kreislauf-Training und aus Muskeltraining. Je älter wir werden, desto bedeutsamer wird das. Wir brauchen immer Herz-Kreislauf-Arbeit. Das ist wichtig, um den Stoffwechsel gesund zu halten und Metabolismus zu verhindern. Die Übergewichts- und Zuckerproblematik ist allgegenwärtig. Als Faustregel gilt, dass wir dreimal wöchentlich eine Herz-Kreislauf-Training machen sollten. Je länger und sauerstoffreich desto besser. Laufen ohne zu Schnaufen, so ist hier das Motto.
Können Sie dann noch genauer quantifizieren?
Empfehlenswert sind mindestens 45 bis 60 Minuten pro Herz-Kreis-Lauf-Einheit. Das kann in der Anfangszeit auch gerne ein strammer Spaziergang sein. Daneben braucht es Muskeltraining. Je älter wir werden, umso wichtiger ist die Muskelmasse. Denn nur Muskeln lassen Tasche tragen, Freunde besuchen und die Funktionen im Alltag erfüllen. Muskeltraining kann ich auch immer mal wieder zwischendurch machen. Das lässt sich übrigens sehr gut im Alltag integrieren. Selbst wenn man nicht viel Zeit hat: zweimal im Tag im Stehen für 30 Sekunden die Hacker-Übung machen. Das kann wirklich jeder!
Stichwort Inaktivität: Gerade Menschen mit sitzenden Tätigkeiten klagen über Rückenschmerzen. Haben Sie hier gezielte Tipps und Übungen?
Grundsätzlich hängt die Gesundheit des Rückens schon an der Leistungsfähigkeit der Muskulatur. 150 Muskeln von 650 Muskeln wirken direkt auf die Wirbelsäule. Dabei kommt es nicht auf die Riesenkräfte an, sondern es kommt auf die kleinen feinen und sehr tief sitzenden Muskeln an, die direkt an der Wirbelsäule liegen. Es ist gar nicht so einfach diese Muskeln zu trainieren, insbesondere ist es wichtig, dass man asymmetrische Übungen ausführt.
Zum Beispiel...
Ein Beispiel, das man sich merken kann: Kraulen ist besser als Brustschwimmen. Ganz einfach, weil man hier asymmetrische Bewegungen ausführt. Gerade für die Lendenwirbelsäule – quasi für die Schlechtwetterecke des Körpers – sind Tret- und Gehbewegungen extrem gut. In der Asymmetrie der Rotation werden gezielte Bewegungsreize für die kleinen Muskeln an der Lendenwirbelsäule gesetzt.
Welche Rolle spielt dabei die Ergonomie für den Rücken?
Ergonomie wird häufig missverstanden als eine Frage der richtigen Matratze oder des Schreibtischstuhls. Wir zwängen uns in ein Gerät, verharren dort über Stunden und wundern uns, dass wir weiterhin Rückenschmerzen haben. Nein, Ergonomie ist vielmehr eine Lebensstilkomponente und hat mit dem Verhalten zu tun. Ergonomie heißt bezogen auf den Menschen: Komm so häufig wie möglich in Bewegung! Verlasse die starre Haltung! Die beste Bewegung ist die nächste Bewegung!
Nun kommen ins St. Franziskus-Hospital Menschen, die an starken akuten oder chronischen Schmerzen leiden. Was sagen Sie diesen Schmerzpatienten?
Auch da kann Bewegung helfen! Warum? Weil körperliche Aktivität entzündungshemmend wirkt. Der Muskel schüttet bei Bewegung bestimmte Botenstoffe aus, die gegen Entzündungen wirken. Gleichzeitig wird das Belohnungssystem im Körper stimuliert. Das löst Wohlbefinden und gute Laune aus. Man schläft auch viel besser. Der zweite wichtige Punkt ist: Man lernt wieder, was Belastbarkeit ist. Gerade bei chronischen Erkrankungen ist die Schmerzursache nicht nur somatisch, sondern auch psychisch überlagert. Wenn ich durch die Bewegung merke, dass ich noch über Ressourcen verfüge oder dass ich mich über Aktivität wieder an eine gewisse Belastbarkeit gewöhne, hat das positive Auswirkungen auf das Schmerzempfinden. Und drittens lenkt körperliche Aktivität ab, so dass mein Fokus nicht mehr auf dem Schmerz liegt. Das gelingt vor allem beim Spiel, wo Patienten plötzlich Dinge tun können, die sie in einer statischen Position nicht mehr ausführen können. Rotationen, Drehungen, Bälle fangen. Gerade spielerische Komponenten zeigen: Huch, ich kann das ja noch!
Ist diese Botschaft schon im Gesundheitssystem angekommen?
Das Gesundheitssystem ist großartig hinsichtlich der invasiven Maßnahmen! Die Akutbehandlung von Krankheiten sind wir wirklich richtig gut. Wir sind aber schlecht, wenn es um die Ressourcen des Menschen geht. Wir nutzen das eigene Heilungspotenzial der Patienten viel zu wenig. Wir leiten die Menschen da häufig nicht gut an und begleiten sie nicht richtig. Nehmen wir als bestes Beispiel die Rückenschmerzen. Es beginnt schon bei der Diagnostik. Hier schauen wir sehr somatisch und problemorientiert. Wir könnten auch lösungsorientiert vorgehen und mit dem Patienten zusammen schauen, welche Ressourcen der Mensch mitbringt.
Also eine Stärkung von Selbstwirksamkeit?
Ganz genau. Ich glaube, dass wir Gesundheit unter dem Aspekt von Lebensqualität sehen sollten – Lebensqualität, die man selbst aktiv gestalten kann. Bewegung hat her eine enorme therapeutische Wirkung!
Herr Prof. Froböse, vielen Dank für das Gespräch.